Finanzminister R. Alexander Lorz.

Die Einzelfallgerechtigkeit bei der Steuer hat ausgedient

Für weniger Bürokratie braucht die Politik Mut. In einem Pilotprojekt in Hessen erstellt die Finanzbehörde nun die Steuererklärungen der Bürger. Wie das Steuerrecht vereinfacht werden könnte, erläutert Hessens Finanzminister Lorz in seinem Gastbeitrag für das Handelsblatt vom 13. August 2025.

Die Bundesregierung ist in der Finanz- und Wirtschaftspolitik mit einem kraftvollen Zeichen gestartet. Mit dem Wachstumsbooster zur Stärkung des Standorts Deutschland hat sie den versprochenen Politikwechsel eingeläutet.

Diesen Schwung sollten wir auch in der Steuerpolitik nutzen. Der Anfang ist dabei gar nicht so schwer, wie alle immer denken. Hier drei konkrete Vorschläge:

Erstens: Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie Rentnerinnen und Rentner könnten von einer Verpflichtung zur Abgabe von Einkommensteuererklärungen befreit werden. Ist das nicht ein verlockender Gedanke, für dessen Verwirklichung sich auch das Verlassen eingefahrener Bahnen lohnen würde? Wie könnte das geschehen?

Zum einen könnte man analog zum Lohnsteuerabzug bei Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern einen automatischen Steuerabzug auch bei der Rente einführen. Die Besteuerung von Alters- und Rentenzahlungen würde - natürlich ohne etwas an ihrer Höhe zu verändern - direkt an der Quelle erfolgen, indem beispielsweise die Rentenversicherungen die Steuer einbehalten und an das Finanzamt abführen.

Millionen Rentnerinnen und Rentner würden dann zwar zunächst einen etwas geringeren Betrag ausgezahlt bekommen, wären aber dafür von der Steuererklärungspflicht befreit und müssten damit später auch nichts mehr nachzahlen.

Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sind aus dem Berufsleben den Lohnsteuerabzug längst gewöhnt. Gerade für sie ist es eine unangenehme Umstellung, ausgerechnet im Ruhestand plötzlich für die Überweisung der Steuer selbst verantwortlich zu sein.

Kosten pauschal beim Lohnsteuerabzug erstatten

Zweitens: Wir sollten durch Pauschalbeträge typischerweise anfallende Kosten wie Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte, Home-Office oder Arbeitsmittel schon beim Lohnsteuerabzug berücksichtigen. Die heute üblichen Steuererstattungen durch den Steuerbescheid würden damit bei der Berechnung der monatlich abgeführten Lohnsteuer bereits eingerechnet.

Die Bürgerinnen und Bürger bekommen dann sogar früher die Erstattung, beziehungsweise verfügen über mehr Netto, und eine Steuererklärung würde in sehr vielen Fällen überflüssig. Noch ein verlockender Gedanke?

An der grundsätzlichen steuerlichen Abzugsfähigkeit dieser Aufwendungen ändert sich dadurch nichts. Aber der Abzug erfolgt dann eben in Form einer Pauschale und nicht mehr über individuelle Nachweise. Es entlastet alle, wenn solche typischen Kosten steuerlich abgezogen werden, ohne dass das ganze Jahr über Belege gesammelt und aufgehoben werden müssen.

Drittens: Wir sollten uns zudem die Digitalisierung zunutze machen. Wenn beispielsweise Spendenbescheinigungen automatisch und elektronisch an die Finanzverwaltung übermittelt werden, müssen die Bürgerinnen und Bürger diese dem Finanzamt nicht mehr gesondert vorlegen. Den Spendenabzug erledigt dann das Rechensystem automatisch.

Und denken wir ruhig noch einen Schritt weiter: Wenn durch eine Vereinfachung des Steuerrechts viele Bürgerinnen und Bürger zukünftig automatisiert erstellte Veranlagungsvorschläge erhalten könnten und damit die Steuererklärung für sie entbehrlich würde, wäre das ein gewaltiger Schritt voran!

Die Steuererklärung sollte nicht mehr jeden individuellen Sachverhalt abbilden

Genau diesen Schritt gehen wir jetzt in Hessen mit einem bundesweit einmaligen Pilotprojekt, in dem wir zunächst einigen Tausend Steuerbürgerinnen und Steuerbürgerin die Steuererklärung abnehmen. Die Steuer macht dann das Amt! Wir hoffen, das Projekt im kommenden Jahr schon deutlich ausweiten zu können.

Das alles ist keine steuerpolitische Raketenwissenschaft, muss aber von uns allen gelebt und akzeptiert werden. Wir brauchen dafür ein Umdenken. Wir müssen weg von dem im Steuerrecht bisher fest verankerten Glauben an die Einzelfallgerechtigkeit.

Zur Wahrheit über Pauschalierung und Typisierung gehört, dass nicht mehr jeder individuelle Lebenssachverhalt bis ins Kleinste bei der Steuererklärung abgebildet werden kann.

Manche Menschen haben tatsächlich höhere Kosten als eine Pauschale abdeckt. Andere haben geringere Aufwendungen. Hier müssen wir alle miteinander lernen, gewisse Ungenauigkeiten – den sprichwörtlichen „dicken Daumen“ – zu akzeptieren. Aber ohne diesen Preis ist der Rückbau von Bürokratie nicht zu erreichen.

Das erfordert den Mut politischer Entscheidungsträger. Denn wie stets werden die, die sich benachteiligt fühlen, laut aufschreien, während die Profitierenden still genießen.

Das muss die Politik aushalten können. Nutzen wir die Chance im Steuerrecht, nehmen wir diese große Aufgabe auch dort in Angriff. Der Gewinn wäre immens, und die Zeit scheint reif dafür zu sein!

Erschienen in: Handelsblatt, Ausgabe vom 13. August 2025, S. 18, Handelsblatt Media Group GmbH & Co. KG, Stuttgart.